Zen-Parabel

Als der Meister von seinem Schüler gefragt wurde, warum er den Steingarten im Abendrot betrachte, gab er zur Antwort: Ich warte. Als sein Schüler ihn fragte, worauf er warte, da antwortete er: Auf Deine Frage.

Der Schüler kannte seinen Meister gut. Also blickte er ein letztes Mal auf den Steingarten im Abendrot, sagte seinem Meister Lebewohl und verließ das Kloster in den Bergen. Denn dort würde er seine Frage nicht finden. So ging er zunächst in die Ebene, in die große Stadt. Die Neonreklamen zeichneten grelle Bilder in die Dunkelheit, und unzählige Menschen wimmelten in den hell erleuchteten Gassen. Sie lachten, trunken von Reiswein, benebelt vom Opium, und hielten einander eng umschlungen, aber ob sie kämpften oder tanzten, wussten sie nicht, ob sie lachten oder weinten, war nicht zu unterscheiden. Sie alle wollten gesehen werden, doch hatten sie selbst kein Auge für den anderen. Sie alle wollten gehört werden, doch hatten sie kein Ohr für die Klage ihres nächsten. Und so hatte er die Antwort auf die erste Frage gefunden: Was ist die tiefste Einsamkeit? 

Er ging weiter und kam an die Treppe, die zum Jadepalast hinanstieg. Hoch oben auf dem höchsten Berg, am Ende von 10000 Stufen, residierte der Kaiser. Vielleicht würde er dort seine Frage finden. Er brauchte die ganze Nacht, um die Treppe zu erklimmen. Als er im Morgengrauen vor dem Palasttor ankam, erklang ein bronzener Gong. Er drehte sich um und sah hinter sich die Sänfte des Herrschers, die von 20 Bediensteten die Stufen heraufgetragen wurde. Der Morgenwind bewegte die seidenen Vorhänge, die mit den kaiserlichen Insignien der Macht versehen waren, für einen Moment zur Seite. Die Blicke des alten Kaisers kreuzten sich mit den seinen, und er las in ihnen einen großen Schmerz. Siehe, ich bin der Herrscher über alle meine Untertanen, ich gebiete über tausende von Soldaten, kommandiere ein Heer von Bediensteten, und doch vermag ich es nicht, alleine in mein Haus zu gehen. Ich muss getragen werden, doch Du, Du kannst die Stufen aus eigener Kraft erklimmen. Und der Wind schloss die seidenen Vorhänge wieder, und die Sänfte des Kaisers verschwand in den mächtigen Mauern des Jadepalastes. Und so hatte er die Antwort auf die zweite Frage gefunden: Was ist die höchste Macht?

Er ging weiter und kam an den heiligen Hain. In den Blättern flüsterte der Wind des jungen Tages, und nach einer Weile gaben die Hecken den Blick auf eine Lichtung frei, in deren Mitte eine kleine Hütte stand. Er trat an die Tür und klopfte. Ihm wurde von einem Mönch aufgetan, der ihn freund-lich begrüßte und ihn auf eine Schale Tee einlud, grünen Tee, nicht zu lange gezogen, denn das, so sagte er, öffne Poren und Seele. Und als der Mönch die Schalen abspülte, das Wasser erhitzte und schließlich den Tee hinzugab, waberte Wasserdampf über der Tonkanne, und die aromatischen Gerüche durchdrangen die kleine Hütte. Nachdem der Tee fertig gezogen hatte, nahm er einen Schluck aus der Schale. Sogleich war ihm, als sei er zu einem Schmetterling geworden, der freudig über Sommerwiesen dahinflattert. In diesem Moment hatte er vergessen, wer er war. Doch als die Wirkung des Tees nachließ, war er wieder er, in der kleinen Hütte, auf einer Reismatte sitzend. Und er wusste nicht, ob er es war, der geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder ob es ein Schmetterling war, der geträumt hatte, er zu sein. Er bedankte sich bei dem Mönch und ging aus der Hütte hinaus. Und so hatte die Antwort auf die dritte Frage gefunden: Was ist die reinste Wirklichkeit? 

Er ging weiter und kam an einen Tempel. Dort wurde ihm erzählt von dem Heiligen, dem zu Ehren der Tempel errichtet worden war. Er wollte die Erleuchtung finden, war in den Wald gegangen und hatte zu diesem Zweck sieben Jahre ununterbrochen meditiert. Er hatte Wind und Wetter, Regen und Sturm, wilden Tieren und Hunger und Durst getrotzt. Schließlich hatte er seine Meditation beendet, doch als ihn seine Schüler fragten, ob er die Erleuchtung gefunden habe, konnte er nicht mehr antworten, denn er hatte das Sprechen verlernt. Stattdessen schlug er mit den Armen, als ob es Flügel wären, und gab Laute von sich, die einem Zwitschern ähnelten. Und dabei lächelte er glückselig. Und so hatte er die Antwort auf die vierte Frage gefunden: was ist die tiefste Weisheit? 

Er ging weiter und kam an das Meer. Die Wellen brandeten gegen die Felsen, und am Horizont versank die Sonne und krönte die Wogen mit ihren rotgoldenen Strahlen. Er ging eine Weile am Strand entlang, und als er hinter sich sah, bemerkte er, wie die Wellen seine Fußspuren mit sich fortrissen. Da wurde er sehr traurig, denn er hatte die Antwort auf die fünfte Frage gefunden: was ist Vergänglichkeit? 

Er kehrte zum Kloster in den Bergen zurück, wo der Meister noch immer den Steingarten im Abendrot betrachtete. Meister, sprach er, verzeiht mir, ich habe versagt. Zwar kenne ich jetzt die tiefste Einsamkeit und bin vertraut mit der höchsten Macht. Zwar habe das Wesen der reinsten Wirklichkeit durchschaut, und die Vergänglichkeit von allem, was mich ausmacht, ist mir nicht mehr fremd. Doch habe ich so viele Antworten gefunden, dass ich nicht mehr weiß, was die Frage war. - Du hast mir nicht alles erzählt, sagte der Meister, in den Steingarten blickend. - Nun, Meister, ich wollte eure Zeit nicht mit Belanglosem verschwenden. - Nichts ist belanglos, denn alles ist erleuchtet. Berichte, was Du mir verschwiegen hast. - Meister, ich habe von einem Verrückten gehört, der wie ein Vogel umhergesprungen ist, dabei glückselig gelächelt hat und dem zu Ehren man einen Tempel errichtet hat. Denn er habe die tiefste Weisheit erkannt. Der Meister sagte nichts und blickte auf den Steingarten im Abendrot. Der Schüler folgte seinem Blick, und plötzlich verstand er. Er hatte seine Frage gefunden. Was ist das Glück? Nun konnte er seine Antwort finden. Er machte sich sofort an die Arbeit. Jahre später hatte sich das Kloster in den Bergen sehr verändert. Aus dem Schüler war ein Meister geworden, und anstelle des Steingartens war ein wundervoller Obstgarten mit mächtigen Bäumen gewachsen, aus deren Ästen alle Vögel des Himmels ihre Lieder sangen. Als sein Schüler ihn eines Tages fragte, was das Glück sei, gratulierte er ihm, denn er selbst hatte viel länger gebraucht, um zu dieser wichtigsten aller Fragen vorzudringen, und lud ihn ein, mit ihm zusammen auf den Obstgarten zu blicken. Mit dem Glück, begann er, ist es wie mit einem Vogel auf dem höchsten Baum in unserem Garten. Er singt wunderschön, aber wenn man ihn fangen will, dann fliegt er einfach davon. Also gibt es im Grunde genommen nur eine einzige Sache, die wir tun können. Der Schüler begann zu lächeln: Meister, lasst uns mehr Bäume pflanzen.

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